Bielefeld, Neustädter Marienkirche

NeubauBielefeld, Neustädter Marienkirche

Erbaut 2017, Hermann Eule Orgelbau - opus 685, III + P/46 (davon 6 Extensionen + 2 Vorabzüge)

  • Bielefeld
  • - 2017
  • Neubau

Plan und Entstehung

Fünfeinhalb Jahre sind vergangen seit unserem ersten Besuch in der schönen Neustädter Marienkirche in Bielefeld. Eine angenehme Überraschung war der weite, helle Kirchenraum mit seiner überaus tragfähigen Akustik, ungewohnt hingegen das Fehlen einer Orgelempore (die es bis zur Neugestaltung des Kirchenraums nach dem II. Weltkrieg tatsächlich gegeben hat).

Die Idee der Ausschreibung für die neue Orgel war der Klangstil von Friedrich Ladegast (1818-1905). Er hat seinen Orgeln die Dynamik und Farbenvielfalt des romantischen Sinfonieorchesters gegeben und somit eine moderne, konzertante Orgel geschaffen, die von bedeutenden Komponisten seiner Zeit – vor allem Franz Liszt – sehr geschätzt wurde. Eine exzellente Individualität jeder einzelnen Klangfarbe und eine weit angelegte Dynamik vom zart verhauchenden pianissimo bis zum monumental brausenden Tutti der gesamten Orgel kennzeichnen Ladegasts Instrumente.

Unsere Werkstatt konnte mehrfach Ladegast-Orgeln restaurieren, darunter zwei seiner größten Werke in Merseburg und Leipzig sowie die dreimanualigen Werke in Wittenberg, Rudolstadt und Mittweida.  Diese Erfahrungen und die Kenntnis fast aller noch erhaltenen drei- und viermanualigen Ladegast-Orgeln waren für uns sehr wichtig, um Ladegasts Stilistik und seine künstlerisch-klangliche Vorstellung einer romantischen Orgel zu erfassen. Bereits zweimal konnten wir diese faszinierende Ladegastsche Klangwelt in neuen Orgeln umsetzen: 2013 in Oslo-Sofienberg, Norwegen und 2015 in Naestved, Dänemark.

Selbstverständlich war nicht das Ziel, eine Kopie der berühmten Ladegast-Orgeln anzufertigen, sondern eine völlig neue Orgel- eine Hommage an Friedrich Ladegast.

Lesen Sie nahtlos weiter unter Konzeption.

 

 

Eule-Orgel Bielefeld

 

I. Hauptwerk C-c′′′′  

Bordun 16′
Principal 8′
Viola di Gamba 8′
Flauto major 8′
Rohrflöte 8′
Octave 4′
Spitzflöte 4′
Quinte 2 2/3′
Octave 2′
Mixtur 4fach 2′
Cornet 2-4fach 2′
Trompete 8′

 

II. Schwellwerk C- c′′′′

Quintatön 16′
Geigenprincipal 8′
Salicional 8′
Gedeckt 8′
Principal 8′
Flauto minor 4′
Nasard 4′
Waldflöte 2 2/3′
Terz 2′
Quinte Vorabzug 2′
Progr. harm. 2-4fach 2′
Cor anglais 8′
Clarinette 16′
– Tremulant

 

III. Schwellwerk   C- c′′′′

Liebl. Gedackt 16′
Viola d’amour 8′
Flauto Traverso 8′
Doppelflöte 8′
Unda maris ab c° 8′
Fugara 4′
Zartflöte 4′
Violine Vorabzug 2′
Harm. aetherea 3fach 2 2/3′
Oboe 8′

 

Pedal C-f′

Untersatz Extension 32′
Principalbass 16′
Violonbass 16′
Subbass 16′
Octavbass Extension 8′
Violoncello Extension 8′
Gedacktbass Extension 8′
Octave Extension 4′
Posaune 16′
Trompetenbass 8′
Clairon Extension 4′

 

Koppeln und Spielhilfen:

  •  6 Normalkoppeln I-II, III-I, III-I, I-P, II-P, III-P (mechanisch als Züge), 3 Pedalkoppeln (zusätzlich als wechselwirkende Tritte), Superkoppel II-II (mechanisch)
  • 3 Schwelltritte (der Schwellkasten des III. Manuals hat vorn und hinten Jalousien, die sich separat öffnen lassen)
  •  Walze (mit 4 einstellbaren Programmen), Walze an (Tritt)
  • Cymbelstern (Registerzug, Stiftung eines Gemeindemitglieds)
  •  Setzeranlage System Eule mit 10.000 Speicherplätzen, Setzerbedienelemente in einem Schubkasten rechts, Zahlen-, Setzer- und Rückstelltaste unter Manual I, Sequenzer vor- und rückwärts dreifach als Pistons unter Manual I, im Setzerschubkasten und als Tritte
  • Funktionstasten für Einfügen, Löschen, Kopieren, Lesen und Schreiben
  •  Speichermedium für je 1.000 Kombinationen als Chipkarte
  • Digitalanzeigen für Setzer, Walze und die 3 Schweller
  •  Schalter für Motor und Licht als Registerzüge
  • Stimmdrücker

 

Technische Daten:

  • Schleifladen mit mechanischer Spieltraktur, eingebauter Spielschrank
  • doppelte Registertraktur mechanisch und elektrisch mit Setzeranlage
  • 2.843 Pfeifen, davon 30 im Prospekt vorn (Principalbass 16′, Principal 8′) und 14 hinten
  • (Untersatz 32′) sichtbar
  • 10 große Windladen, 2 Einzeltonladen
  • 4 doppelfaltige Magazinbälge für jedes Werk, Hauptbalg mit Ventilator
  • Winddrücke: Hauptwerk 83 mmWS, II. Manual 80 mmWS, III. Manual 81 mmWS,
  • Pedal 93 mmWS,
  • Stimmton 440 Hz bei 15° C, Stimmungsart gleichschwebend

 

Die einzelnen Bestandteile (Fortführung der Projektbeschreibung)

 

Besonders das Hauptwerk, spielbar auf dem I. Manual, übernimmt mit seinen 12 Registern das Ladegastsche Klangkonzept vollständig. Der kraftvolle, festlich-silbrige, führende Klang des 5registrigen Principalchores wird von der leuchtenden großen Flauto, der samtig-hellen Rohrflöte, dem dunklen Bordun und einer markanten Gambe flankiert. Das Cornett beginnt bereits ab C und färbt den Klang markig und eigenständig, Trompete 8′ gibt Kraft und Brillanz.

Auch das II. Manual enthält das dazu passende Ladegastsche Registerensemble: Ein schlankerer, hellerer Geigenprincipalchor mit einer Progressio als Klangkrone, daneben zwei Flöten, das fein singende Salicional, das färbende Nasard und die etwas herbere Basierung auf der Quintatön. Aber die Disposition führt dieses Konzept weiter: Clarinette 8′ erhielt aufschlagende Zungen, ein Cor anglais 16′ wurde hinzugefügt, das Pfeifenwerk erhielt einen Schwellkasten. Dadurch werden die Ausdrucksmöglichkeiten vor allem für die symphonische Orgelmusik der Zeit um und nach 1900 erweitert, besonders für französische Orgelmusik der Romantik. Weitere Ergänzungen waren eine Terz 1 3/5′ und eine Quinte 1 1/3′, letztere als Vorabzug aus der Ladegastschen Progressio gewonnen, sowie ein Tremulant: Diese Register ermöglichen farbige Soloregistrierungen für barocke Musik. Passend zur barocken Verspieltheit wurde nachträglich noch ein Cymbelstern mit 6 Glocken bestellt.

Das III. Manual – bei Ladegast das sanfteste Werk, umgeben von einem Schwellkasten – erhielt eine größere Besetzung, wie sie Ladegast 1864 in Weißenfels angelegt hatte: die zarte Viola d′amour und die anmutige Flauto traverso zusammen mit dem dunklen Lieblich Gedackt ermöglichen mystische, verträumte Klänge, die die Unda maris als Schwebestimme sphärisch durch den Raum schweben lässt. Aufhellung bringen Fugara und Zartflöte sowie die fein silbrig glitzernde Harmonia aetherea, aus der als Vorstufe ein 2′ abgezogen werden kann. Jedoch sollte das III. Manual nicht nur ein zartes Echowerk wie bei Ladegast üblich sein, sondern sich an die Klangstärke des I. und II. Manuals besser anschließen. Daher wurde es Teilwerk um eine Oboe 8′ für spätromantische Klangfarben ergänzt, und die füllige, intensive Doppelflöte 8′ wanderte aus dem II. Manual hierher, im Tausch gegen das schlankere Gedackt.

Auch das Pedal erhielt als Kern die grundtönige Besetzung mit vier 16′-Registern, darunter der profunden Posaune, die wir in der Bauform Ladegasts bauen. Erweitert wurde die Besetzung um einen Trompetenbass 8′, den Ladegast erst bei größeren Orgeln baute. Die technische Möglichkeit von Extensionen im Pedal erlaubte es, aus diesen Pfeifenreihen 6 weitere Register (mit je 12 zusätzlichen Pfeifen) zu gewinnen und dem Pedal so eine ladegasttypische reiche Besetzung zu geben, die alles für Spätromantik Wünschenswerte enthält und zusätzlich mit Clairon 4′ eine aufhellende barocke Solostimme.

Der Gesamtklang der Orgel soll farbig, vielseitig, raumfüllend und ganz besonders dynamisch werden: Vom fast verhauchenden pianissimo bis zum brausenden Tutti soll die Orgel alle erdenklichen Nuancierungen ermöglichen. Quasi symphonisch, wie ein großes Orchester, mit allem, was auch für Musik der Zeit Regers, Widors, Elgars und Karg-Elerts wichtig ist. Aber er soll auch klassische barocke Musik mit ihren hellen, farbenfrohen Klängen spielbar machen, und auch moderne Musik ermöglichen. Zwar blieb es nominell bei 38 Registern, aber durch 6 Extensionen und 2 Vorabzüge können effektiv 46 Klangfarben registriert werden.

Recht schnell bestand Einvernehmen, dass der Standort der neuen Orgel vor dem Westeingang sein sollte, wo früher die Orgeln auf der einstigen Empore standen. Doch die Eingangssituation sollte nutzbar bleiben und das Westfenster möglichst sichtbar, Eingriffe in die denkmalgeschützten Säulen und Wände sollten möglichst vermieden werden. Andererseits benötigt eine große Orgel im romantischen Stil mit ihren vielen weiten und langen Pfeifen, Schwellkästen, Windanlage und Technik eben auch ihren Platz, damit die Klangentfaltung im Inneren nicht behindert und die Orgel für Wartungen unzugänglich wird. Daher entschieden wir uns für ein Gehäuse mit einem schmaler eingezogenen Unterbau, sodass seitlich Durchgänge für die Kirchenbesucher bleiben. Der Organist sitzt auf einem 1,3 m tiefen Podium vor der Orgel 70 cm über dem Erdboden und kann so über die Köpfe der Besucher hinweg das Geschehen in der Kirche sehen und mit anderen Musikern Kontakt halten – und sitzt ein wenig separiert von allzu Neugierigen, die ihm zu dicht auf die Finger schauen wollen.

Für das sichtbare Obergehäuse, den Prospekt, wählten wir eine strenge Gliederung in großen Formen – Kleingliedrigkeit hätte optisch den Eindruck einer viel größeren Orgel erweckt. In nur 6 Feldern ohne Etagenunterteilung stehen 30 teils über 5 Meter lange Pfeifen und schaffen einen ruhigen, klaren Eindruck, der die dominierende Vertikale der gotischen Architektur aufnimmt. Die 4 schmalen Mittelfelder greifen die Fensterpassgliederung des Westfensters hinter der Orgel auf – sie sind etwas niedriger, sodass man das Maßwerk des Westfensters sehen kann. Erst im rückwärtigen Bereich kragt das Obergehäuse nochmals seitwärts aus und schafft hier den Platz für die beiden großen Schwellwerke. An der Rückseite stehen die 14 tiefsten Pfeifen der Orgel auf einer kleinen Vorkragung über dem Eingangsbereich. Die Gehäuseflächen und der Spielschrank sind in Eiche gestaltet, die Güte, Stabilität und Dauerhaftigkeit der neuen Orgel symbolisiert.

Der Organist spielt am eingebauten Spielschrank. Alle Tasten (3 Manualklaviaturen mit 61 und 1 Pedalklaviatur mit 30 Tasten) und die 46 klingenden Registerzüge sind in traditioneller Bauweise mechanisch mit den Ventilen und Schleifen verbunden. Die für Ladegast typischen nur 3 Koppeln wurden um 3 weitere ergänzt – 6 Koppeln ermöglichen jetzt, jede Klaviatur mit den anderen zu verbinden, eine 7. Koppel verbindet die höhere Oktave des II. Manuals. 2 Tremulanten ermöglichen den Orgelklängen ein Vibrato. Additiv auf die Mechanik wirkt eine elektrische Registrieranlage, die es ermöglicht, beliebige Registerkombinationen, die der Organist im Vorhinein einstellt, abzuspeichern und während des Spiels durch Knopfdruck aufzurufen. Das ermöglicht auch eine Walze, durch deren Drehen mit dem Fuß nacheinander alle Register und Koppeln eingeschaltet werden – in einer dynamisch fein abgestimmten Reihenfolge vom pianissimo bis zum Tutti. Zwei Balanciertritte bedienen die Jalousien der beiden Schwellkästen, in denen alle Pfeifen des II. und III. Manuals stehen (mithin mehr als die Hälfte aller Pfeifen) und ermöglichen eine zusätzliche Dynamik vom piano bis forte, ohne dass die Klangfarbe sich ändert.

Jiří Kocourek, Künstlerischer Berater Hermann Eule Orgelbau GmbH Bautzen 

Alle Bildrechte gehören

dem Hermann Eule Orgelbau.